brand new bundestag
Ein Zeigefinger streicht über den blanken Schreibtisch des schmalen Büros. Wolkendecken haben die Räume heruntergekühlt, doch durch das Fassadenglas flutet leises Licht. “So kann es nicht weitergehen. Wenn wir wirklich gesellschaftliche Sprünge machen wollen, muss es Synergien geben.” Der Mann, dem der Zeigefinger gehört, wirft den Satz durch den Raum hin zum Fenster, als würde dieser damit seinen Weg hinaus in die Welt finden. Tatsächlich wird er zum Luftzug, der zwischen den folgenden Worten weht.
Als promovierter Jurist und Sozialunternehmer war Max Oehl einige Zeit sowohl für zivilgesellschaftliche Organisationen als auch im Parlament tätig. Dies ließ ihn erkennen: Beide Bereiche wollen zusammengebracht werden. Nur stehen sie auf verschiedenen Seiten desselben Flusses. Daher braucht es Brücken. Mit der Vision des Brückenbaus und einer neuen Beziehungskultur zwischen Zivilgesellschaft und Parlament wurde Max Oehl deshalb zum Co-Initiator des Projektes Brand New Bundestag. Die Graswurzel-Organisation unterstützt Menschen mit progressiven Ideen auf ihren politischen Wegen.
Strukturelle Veränderungen brauchen sowohl politische als auch gesellschaftliche Mehrheiten. Deshalb können Personen und Gruppen nicht ohne unterstützende Netzwerke politisch handeln. Gruppen, die marginalisiert werden und daher politisch unterrepräsentiert sind, hatten diese Netzwerke bisher noch nicht. Mit Brand New Bundestag ist ein solches entstanden.
Zwei Säulen halten den neuen, progressiven Bundestag: Zunächst braucht es Diversität, also Repräsentation der tatsächlichen Bevölkerung. Als Organisation, die aus der Mitte der Gesellschaft erwächst, spricht Brand New Bundestag mit den Stimmen alleinerziehender Mütter, mit denen von Pflegekräften und von Menschen mit Fluchterfahrungen.
Die andere Säule erbaut sich auf Politiker:innen mit progressiven Inhalten. Kassem Taher Saleh ist so ein Politiker. Und bietet damit gerade im Wahlkreis der PEGIDA-Aufmärsche ewig gestrigem Denken die Stirn.
Den Weg von Plauen nach Berlin beschritt der Baupolitiker mit hohem Tempo. 2018 Staatsbürgerschaft, 2019 Parteimitglied, 2021 direkt die Bundestagskandidatur. “Ich habe während Corona kandidiert. Ich kannte die Parteistruktur nicht so krass, hatte noch kein Parteiprogramm mitgeschrieben, lernte gerade erst die Argumentationsstrukturen kennen. Ohne Brand New Bundestag wäre ich nicht hier.”
In ihrem Programm unterstützten sie ihn sowie überparteilich weitere junge, progressive Kandidierende, von denen es drei in den Bundestag schafften. Neben struktureller, strategischer und finanzieller Unterstützung war es vor allem der mentale Support, der Kassem geholfen hat. “Man merkt, da stehen Leute hinter dir”, betont er. Und das ist wichtig - bei allem Zweifel, der bei einem teilweise harten parteiinternen Umgang durchaus aufkommen kann. Unterstützung ist ein Netz, das aus verschiedenen Richtungen gewebt wird.
Dabei erweitert sich auch das Spektrum an Meinungen und Perspektiven. “Es muss auch mal jemand sagen können: “Mensch Kassem, so kenn ich dich gar nicht! Das war irgendwie nicht so gut.” Das wünsche ich mir von Freunden, aber auch von meinem Team”, erzählt Kassem, während
ein Kollege fröhlich zur Tür reinschneit. Die beiden begrüßen sich mit Fistbump und hören kurz, wie es einander geht. Direkt und offen miteinander reden zu können, fehlt ihm oft in der Politik. “Ich komme von der Baustelle. Da schreit man sich manchmal vormittags noch an und isst später gemeinsam Abendbrot.”
Sein persönliches Ziel ist es daher, ehrlich und höflich zu bleiben. Den menschlichen Kontakt zu schätzen. Insbesondere mit der Zivilgesellschaft. So bleibt er bei seinen Werten, und bei sich selbst. Denn seine politischen Ziele kann er nur als Kassem durchsetzen.
Manchmal wird sein erweitertes Netzwerk jedoch zum Spannungsfeld. “Dann bin ich echt im Spagat zwischen der Fachpolitik, der migrantischen, der jungen und der progressiven sowie der ostdeutschen Community. Mein Ziel ist es wirklich alle Meinungen anzuhören und dann das Beste für alle zu machen. Wenn es um die Klimakrise geht, geht das Alle an. Dann muss das auch die beste Lösung für Alle sein.”
Auch Max Oehl kennt die Arbeit zwischen Kontroversen und Kompromissen. Denn innerhalb des progressiven Lagers kann es ebenso zu Hitze kommen. “Wenn es heißt: ihr seid nicht radikal genug oder ihr seid zu radikal, dann wird oft direkt eine Zusammenarbeit ausgeschlossen”, erklärt Max. Er schlägt vor, dass wir lieber auf gemeinsame Werte und Ziele als auf Details gucken sollten, um zu kooperieren. Grundsatz: “Erstmal auf den Weg zur grundlegenden Veränderung machen und dann gucken, wie wir die unterschiedlichen Interessen bestmöglich in einen Ausgleich bringen.”
Dazu kommt noch die Finanzierungsfrage. “Eigentlich sollten NGOs nicht wie Unternehmen konkurrieren. Doch Organisationen, die sich institutionalisieren, kämpfen um den Selbsterhalt”, erläutert er.
Das hindert auf dem Weg zum großen Ziel - unterscheiden sich die Organisationen von profitorientierten Institutionen doch gerade weil sie auf dieselbe Wirkung hinführen wollen. “Wir sind uns einig, dass wir was tun müssen. Daran sollten wir uns halten und wo immer möglich Synergien schaffen und zusammenarbeiten.”
Seite von Pragmatismus. Für Max ist es eine notwendige Zusammenkunft, um herauszufinden: Was ist der Weg, der uns jetzt am schnellsten zur Veränderung bringt? Auf gesellschaftlicher Ebene unterliegen Veränderungen vor allem einer Vision. Das Bild, das Brand New Bundestag von einer progressiven Gesellschaft malt, ist eines, das einen hoffnungsvollen Blick zeigt. Ein Blick, in dem die Zeitenwende, die wir gerade erfahren, als Chance hervorgeht.
Max sieht den Kern für eine solche Vision in uns allen: “Guckt mal, wie viele gute, liebevolle Anteile in euch sind. Lasst uns uns jetzt zusammen tun und dafür sorgen, dass wir unsere Gesellschaft aus diesen Anteilen heraus formen!”
Sein Blick schweift nun unmerklich an die Wand des Büros. Der Zettel, den sein Auge erfasst, trägt große, schnelle Buchstaben. Sie sagen: Frischer Wind für den Bundestag!
“Ich fühle mich, als würde ich durch den Regen laufen. Der Regen ist da, ich kann es nicht ändern. Der Regen kann alles kaputt machen. Und doch, selbst wenn der Regen noch nicht ganz vorbei ist, kommt die Sonne. Und naja, nur dann gibt es einen Regenbogen.”
Julia guckt in das grelle Lämpchen über ihr, als sei es ebendiese wärmende Sonne. In dem Proberaum ist Ruhe eingekehrt. Und das, obwohl er gerade noch von schwungvollen Windungen durchzogen war. Julia und die anderen Performenden sitzen zusammen und reflektieren die vergangenen drei Stunden. Diese waren durchwebt von Empfindungen - gewölbt, gekrümmt, umgestülpt, manchmal herausfordernd, immer authentisch. Denn in diesem Theater gibt es keine Rollen, die Performenden spielen aus sich heraus. Ihre Realitäten sollen aufeinander treffen. Und das kann niemals flach sein.
Neben Isaak stehen Little Taylor und seine Freunde für Rap for Refugees auf der Bühne des KNUST im Hamburger Schanzenviertel. Über das Haus der Jugend sind die Zehnjährigen in das Projekt gekommen und machen seit mehr als drei Jahren ihre eigenen Beats und Texte, in denen sie Themen verarbeiten, die ihnen als Kinder, als Heranwachsende, als Schüler:innen begegnen. Dabei wollen sie vor allem Menschen außerhalb ihrer Altersklasse ihre Perspektive zeigen.
Die Gruppe der vier Neun- bis Zehnjährigen, die auf der Bühne mit Schall und Ruf empfangen werden, rappen über Mobbing. “Manche machen anderen das Leben schwer / darum haben andere keine Lust am Leben mehr”, singt Little Taylor im Refrain des Songs und über das Publikum legen sich feuchte Blicke. “Es ist befreiend auf der Bühne zu stehen und über seine Themen zu sprechen. Aber noch wichtiger ist es für uns, den Gemobbten eine Stimme geben, sodass sie laut sein können”, sagen sie.
Auch die Rapper:innen, die ihnen auf die Bühne folgen, sprechen über “die eigenen Gefühle, die sonst nicht ausgedrückt und nicht gezeigt werden”. Sich “auszurappen” bedeutet über Schmerz und Liebe, über die eigene Identität und eigene Erfahrungen zu sprechen. Dieser Akt braucht Mut - aber auch ein haltendes Publikum. “Egal was du leistest, hier werden alle klatschen”, sagt Ata Anat dazu. Er hält alles bei Rap for Refugees zusammen.
Um mit Theater und Performance aktivistisch zu sein, braucht es echte Emotionen. Deshalb sind die Schauspielenden bei der Flinta*-Performance-Gruppe “Interfemme” nicht professionell. Sie repräsentieren in ihren Realitäten die Sektionen, die bei Intersektionalität gemeint sind. “Das ist das Problem von Theater: Es werden Realitäten dargestellt, ohne echte Realitäten zu zeigen”, sagt die Leitende Ana Valeria Gonzáles. Später wird sie sagen: “Die Theaterstrukturen sind zum Kotzen. In manchen Theatern kotzt man einfach nur besser.”
Sie sitzt auf schüchternem Frühlingsgras, die Sonne im Rücken, über ihr Papageienschwärme. Der Stadtpark in Köln. Carina sitzt neben ihr, schaut aufmerksam in Ana’s Gesicht. Sie arbeitet beim Sommerblut Festival, das seit zwanzig Jahren als inklusives Kulturfestival fast den gesamten Mai lang Köln kulturell umdichtet. Sie begleitet dabei das neue Projekt von Interfemme über Liebe: “Entlove you!”. Und ist längst Teil davon geworden.
In der Arbeit mit der eigenen Identität und Biografie braucht es auch Verbundenheit innerhalb der Gruppe. In den Proben gehen die Performenden aufeinander zu, voneinander weg, bewegen sich synchron und ungewiss. Einige kennen sich noch nicht. Ihr Bewegen verändert sich über die Stunden. Doch heute sind sie immer langsam und sanft. Eine Stunde lang schauen sie sich fast ununterbrochen in die Augen.
Dabei zittert ein unsichtbares Band zwischen den Augenpaaren. Es erbebt zwischen Anspannung und Entspannung, während sich eine der anderen öffnet.
“Jede hat eine andere Energie. Das sieht man, wenn man in die Augen guckt”, sagt die Teilnehmende Ulla. Für sie sind die Begegnungen hier auf einer besonderen Ebene. Denn alle in der Gruppe haben Diskriminierungserfahrungen gemacht. “Da muss man nicht immer so viel erklären”
Als Ulla in die Gruppe kam, war sie fern von der Vorstellung, auf einer Bühne zu stehen. Doch die Erfahrung, eigene Geschichten zu dichten und schönen künstlerischen Ergebnissen zu formen, ließ sie aufblühen. “Wir wachsen dabei so sehr, am Ende sind wir alle richtig groß!”, meint Ana. “Und der Weg dahin ist nicht hart, er ist leicht.”